Posts Tagged ‘Charakterdiagnose’

Warum all die langweiligen Fallgeschichten im JOURNAL OF ORGONOMY? (Teil 2)

25. Juli 2019

Der erste Teil schloß mit Dr. Konias Verdammung der Laientherapie. Was wirkliche Orgontherapie ist, hat Konia wie folgt auf klassische Weise dargestellt:

Orgastische Potenz ist die Fähigkeit, sich der unwillkürlichen Erschütterung des Organismus vollständig zu ergeben und die sexuelle Erregung auf dem Höhepunkt der Genitalumarmung vollständig zu entladen. Personen mit dieser Fähigkeit sind genitale Charaktere.

Bei der klinischen Beobachtung von Individuen und Gruppen fand Reich heraus, daß die große Mehrheit der Menschen an einer Störung der orgastischen Potenz leidet. Die Bedeutung dieses allgegenwärtigen Zustands ist tiefgreifend: er hindert den Organismus daran, seine Energiewirtschaft zu regulieren. Gleichzeitig manifestiert sich die überschüssige Energie, die nicht ausreichend entladen wird, über das gesamte Spektrum der menschlichen Gefühls- und Verhaltenspathologie hinweg. Die Charakterdiagnose des Individuums ist lediglich eine Beschreibung der Art und Weise, in der spontane orgastische Empfindungen und Bewegungen blockiert werden. Der Patient ist in seinem Panzer buchstäblich eingeschlossen. Eine korrekte Charakterdiagnose ist der notwendige Schlüssel, um seine neurotische Struktur zu entsperren. Die klinische Beobachtung zeigt immer wieder, daß die erfolgreiche Auflösung der neurotischen Charakterstruktur (Panzer) des Patienten auf der Grundlage einer korrekten Charakterdiagnose letztendlich von spontanen Bewegungen des Gesamtorganismus und überwältigenden Lustempfindungen im Genital begleitet wird – beides Voraussetzungen für orgastische Potenz. Ohne die strikte Einhaltung des Standards der orgastischen Potenz mit dem Ziel der Genitalität als Gesundheitskriterium ist eine medizinische Orgontherapie nicht möglich. Die Ausrichtung der Therapie wird streng von diesem Ziel bestimmt. Ohne sie ist die Therapie richtungslos und das Ergebnis eine Sache des Zufalls. (The Journal of Orgonomy 50(2), S. 215f)

Die Bedeutung einer korrekten Diagnose

27. April 2015

DIE ZEITSCHRIFT FÜR ORGONOMIE

Adam Stewart: Die Bedeutung einer korrekten Diagnose

acologo

Der affektblockierte Wellensittich auf der Orgoncouch

18. Dezember 2014

Der heutige Mensch ist gepanzert. Die Panzerung setzt sich aus sieben Segmenten zusammen: Augen-, Mund-, Hals-, Brust-, Zwerchfell-, Bauch- und Beckensegment. Die obersten beiden Segmente und das Beckensegment enthalten die Sinnesorgane, d.h. die Organe mit der wir mit der Umwelt in Kontakt treten. Das Genital ist gewisserweise ebenfalls ein „Sinnesorgan“. Im Anschluß an Freud spricht man von den erogenen Zonen: okular, oral, anal, phallisch und genital. Die Frustration der natürlichen oralen und genitalen Strebungen führt möglicherweise zur Aktivierung unnatürlicher (okularer, analer und phallischer) Strebungen und zur Fixierung auf einer dieser fünf Entwicklungsstufen, was mit einer entsprechenden Panzerung im Augen-, Mund- und Beckensegment einhergeht. Diese komplizierte Dynamik bestimmt die Charakterstruktur. Beispielsweise wird bei einem Zwangscharakter die natürliche Genitalität so unterdrückt, daß es zu, wenn auch nur schwachen, phallischen Strebungen kommt (die stets unnatürlich sind!), die sofort durch Analität (die erst recht stets unnatürlich ist!) aufgrund von Kastrationsangst abgewehrt werden. Das schlägt sich in der ausgesprochen rigiden Panzerstruktur des Zwangscharakters nieder. Kam es am Anfang des Lebens zu einer sehr starken okularen Panzerung, entwickelt sich kein Zwangs-, sondern ein kataton-schizophrener Charakter

Zwar sind wohl so gut wie alle Menschen in den Augen, im Mundbereich und im Becken gepanzert, aber darauf kommt es weniger an als vielmehr darauf, welche Funktion diese Panzerung jeweils einnimmt. Geht der Patient bei Energieanstieg in den Augen weg (schizophrener Charakter) oder senkt er das Energieniveau durch Abpanzerung jenes Segments, daß für die Energieaufnahme primär verantwortlich ist (der chronisch-depressive Charakter) oder schwankt er zwischen diesen beiden Alternativen (der manisch-depressive Charakter). Die Frage ist also, wie das bioenergetische Feld des Menschen in seiner individuellen Entwicklung konditioniert wurde – und wie man es wieder systematisch dekonditionieren kann.

Das muß nicht heißen, daß die Konditionierungen in einer Gesellschaft regelmäßig verteilt sind und so die Charakterstrukturen schön ausgeglichen sind. Beispielsweise ließe sich eine Gesellschaft denken, in der nicht wie heute die bei weitem meisten Männer phallische Charaktere sind, sondern Zwangscharaktere. Früher war es sicherlich so, daß die meisten Menschen mehr anal konditioniert waren, während sie heute mehr okular konditioniert sind. In Skandinavien sind die Menschen im Mittel mehr oral-depressiv konditioniert, in Deutschland mehr anal-zwanghaft, in den USA mehr phallisch-aggressiv. Je rationaler die Behandlung der Kleinkinder wird, desto weniger ausgeprägt sind spezifische Konditionierungen (z.B. wird heute nicht mehr rigide nach Plan gestillt, die Pampers haben die Stuhlentleerung der Babys leichter handhabbar gemacht, etc.) – wodurch in Zukunft aber auch die Diagnosestellung immer schwerer werden wird, einfach weil die Pathologie ausgewogener ist. Aber das bestätigt eher die innere Logik der von Reich und im Anschluß daran von Baker entworfenen Nosologie, als daß sie untergraben wird. Außerdem hatte Reich diese Schwierigkeiten bereits in den 1920er Jahren mit den Menschen aus den Unterschichten, die nicht so rigide erzogen wurden, dann aber später um so heftigeren Versagungen ausgesetzt waren. So entstand der triebhafte Charakter, den man nosologisch kaum sinnvoll einordnen kann und der, wie die Orgonomin Barbara Koopman bereits Anfang der 1970er Jahre konstatierte, heute immer mehr Menschen umfaßt.

Ich gehe in meiner Charakterdiagnose nicht auf, der Leser geht in der seinen nicht auf, der pallisch-narzißtische Reich nicht und auch nicht der chronisch-depressive Baker – niemand ist auch nur annähernd erschöpfend durch die Charakterdiagnose beschrieben. Es ist ja auch gar nicht die Aufgabe der Charakterdiagnose, ein photographisches Abbild eines Menschen zu liefern, sondern sie soll nur den funktionellen Schwerpunkt seiner Pathologie erfassen und dem intersubjektiven Austausch zugänglich machen – um so zusätzliche Informationen über den Patienten zu erschließen, denn so gesehen ist er plötzlich kein Unikum mehr, sondern gehört zu einer ganzen Gattung, die an tausenden Exemplaren bereits seit Jahrzehnten eingehend erforscht wurde.

Es ist so wie bei einem Wellensittich: jeder Wellensittich ist wirklich ganz anders, es sind echte Persönlichkeiten – aber trotzdem macht es Sinn, wenn ich mich mit anderen Wellensittichhaltern austausche. Und genauso ist es mit Zwangscharakteren: alle sind unvergleichbare Individuen, die sich ganz unterschiedlich verhalten – aber das schließt doch nicht aus, daß ein Therapeut sich an einen anderen Therapeuten wendet und ihm sagt: „Weißt Du, ich habe jetzt seit Monaten einen Zwangscharakter in Behandlung und ich finde einfach keinen Ansatzpunkt, um in seine Panzerung einzubrechen, irgendwie bleibt er stets unberührt, egal wie tief ich charakteranalytisch oder biophysisch ansetze.“ Worauf der andere Therapeut antworten kann: „Tja, wenn ich auf meine bisherigen Fälle zurückschaue, bringt es nichts, einen Zwangscharakter zum Atmen zu bringen, das Zwerchfell zu befreien und seine Kindheitsgeschichte durchzukauen oder seine gegenwärtigen Schwierigkeiten. Das einzige, was wirklich weiterhilft, ist das hochtreiben des Sadismus. Ansonsten kannst Du ihn entpanzern, wie Du willst, er wird sich nie ändern und im Grunde ein nüchterner Beobachter bleiben und so am Ende die Therapie als vermeintlicher Sieger verlassen. Es ist alles vergebens, solange nicht die maßlose Wut hochkocht. Ohne diesen zentralen Punkt ist alles Reden und Weinen und Bekennen und alles bioenergetische Mobilisieren ohne Bedeutung. Laß dich nicht zum Komplizen machen, der dem Patienten hilft seinen wunden Punkt zu umgehen.“

Wenn ich das richtig verstanden habe, ist die Diagnose in der Orgontherapie in viererlei Hinsicht einfach unverzichtbar und hat vier Funktionen: 1. verhindert sie, daß man den Patienten nur als Unikum sieht, das keinerlei Gesetzmäßigkeiten unterliegt; 2. verhindert die Diagnose von vornherein, daß man den Patienten als bloßen geschichtslosen „bioenergetischen Sack“ sieht, an dem der „Orgoningenieur“ herum manipuliert; 3. wird durch die korrekte Diagnose verhindert, daß der Patient den Therapeuten in die Irre führt, also alles gibt und scheinbar „gesundet“, nur damit ja nicht der schmerzhafteste Punkt angegangen wird; und 4. zwingt die Diagnosestellung den Therapeuten sich mit der Struktur des Patienten wirklich auseinanderzusetzen, d.h. sich selbst Rechenschaft darüber abzulegen, inwieweit er die Struktur des Patienten verstanden hat, so daß er darüber mit Kollegen sprechen kann.

Man könnte einwenden, daß man mit der Diagnose, der Etikette („die und die Krankheit“), die man dem Patienten auf die Stirn klebt, den Weg für das gesunde Potential des Patienten und seine Entwicklungsmöglichkeiten verbaut. Reich sah das anders, als er über seine Patienten sagte: „Nach außen hin erscheinen sie in einer bestimmten verschrobenen Art, doch durch das Krankhafte hindurch können wir deutlich das Gesunde spüren“ (Die sexuelle Revolution, Fischer TB, S. 29). Ohne eine Diagnose kann man das Gesunde nicht deutlich sehen, sondern nur eine undeutliche Qualität, zu der wir nie vordringen können, weil wir den Weg, die Straßenkarte, d.h. die Charakterdiagnose und die dazugehörige orgonometrische Gleichung nicht kennen.

Es geht auch darum, zu erkennen, daß die Charakterstruktur eine überlebensnotwendige Einrichtung für den Patienten ist, um mit seiner Energie umgehen zu können. Es wäre eine Katastrophe, die er kaum überleben würde, wenn man etwa einem Zwangscharakter von heute auf morgen seine ganz spezifische Panzerung nehmen würde. Vielmehr muß die Panzerung logisch und schlüssig sozusagen „rückabgewickelt“ werden. Auch ist die Panzerung nicht vom Himmel gefallen und geht nicht einfach auf die Willkür der Eltern zurück, sondern ist integraler Bestandteil einer gepanzerten Gesellschaftsstruktur. Der wirkliche Kampf beginnt deshalb erst nach erfolgreicher Beendigung der Therapie oder wie Reich schrieb: „Derart sind unter den Bedingungen der sexualverneinenden Gesellschaftsordnung gerade die gesündesten Menschen schwersten subjektiven Leiden ausgesetzt“ (ebd., S. 31).

Es geht um nicht weniger als eine grundlegende Veränderung – von allem. Ich erinnere an Reichs Marxistische Phase, die er später wie folgt umdeutete: „Es gibt in der Gesellschaft eine bestimmte Menschenschicht, die verstreut ohne Zusammenhang lebt und wirkt: die Schicht der mit natürlicher Sexualität ausgestatteten genitalen Charaktere. Man findet sie außerordentlich häufig im Industrieproletariat.“ (Die Funktion des Orgasmus, Fischer TB, S. 151)

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